Ars Audiendi ~ Musikhören als schöpferische und heilende Kunst
Die Heilkunst des Hörens
Der Gregorianische Gesang (Gregorianik) Hintergrund und Urgrund der abendländischen Musik Entwicklung von 600 n.Chr. bis etwa 1100
Heute bezeichnet man Gregorianik als “die liturgischen Gesänge der katholischen Kirche”. Das ist jedoch verkürzt und unvollständig dargestellt. Tatsächlich ist die Gregorianik der
Beginn der abendländischen Musikentwicklung! Wer sich daran stört, dass “ganz normale” Musik etwas mit Kirche zu tun hat, sollte bedenken, dass im gesamten Mittelalter die Förderung, Erforschung und
Ausübung von Kunst und Wissenschaft in den Händen der Kirche lag. Höhere Bildung war nur über die Klöster möglich. Die Wurzeln unserer Kultur sind hier zu finden.
Mit dem Beginn des Christentums entstand eine ganz neue Art und Weise, den Menschen, die Welt und den Kosmos wahrzunehmen und zu beschreiben. Die Musik
der damaligen Zeit klang nach heutigen Ohren “orientalisch”, mit den typischen Modulationen in der Stimme und im Klang der Instrumente. In der neuen Begegnung
mit dem EINEN Gott, in der intimen Nähe Seiner Menschlichkeit, veränderte sich auch das musikalische Empfinden. So bildete sich nach und nach im Lauf der
Jahrhunderte eine neue Art zu singen heraus: Mit ruhigem, klarem Ton, ohne Schnörkel, in reiner Melodie, ohne instrumentale Begleitung. Und alle singen dieselbe
Melodie, keine Nebenstimmen. Diese “Ein-Melodik” heisst daher Monodie (von “mono” und “Ode”).
Die erwünschte Klarheit und Transparenz des Tones wirkt sich später auch auf die
Wahl der Instrumente aus. So verschwinden nach und nach die schnarrenden, näselnden, schleifenden und “unsauberen” Klanggeräusche, wie sie bei mittelalterlichen Instrumenten gehäuft vorkommen.
 Gregor der Große, Papst im 6. Jahrhundert, hatte die Weitsicht und die Kraft, unter den vielen Arten und Weisen des Singens die eine zu fördern, die am schlichtesten auftritt bei gleichzeitig höchster
Kunstfertigkeit. Er sammelte und ordnete diese Gesänge. Von daher tragen sie den Namen “Gregorianische Gesänge”. Gregor hat sie also nicht komponiert. Letztlich
ist dieser Gesang ein Produkt aller Kulturen der Alten Welt: Palaestina, Griechenland, Syrien, Rom. Die Melodien wurzeln tief in deren musikalischen Kulturen. Sie wurden aufgenommen, verwandelt, weitergegeben.
Über Byzanz gelangten sie dann ins Abendland, wo sie erneut angepasst wurden. Der ”alte Ton”, die Wurzel, ist für heutige Ohren unverkennbar.
Seit dem 20. Jahrhundert gibt es Dank der Förderung musikwissenschaftlicher Forschung und dem Engagement sensibler Musiker faszinierende Aufführungen und Aufnahmen von Musik aus den Übergängen zur Gregorianik.
Ich denke hier zum Beispiel an die sogenannten “Altrömischen Gesänge” (Interpreten: Ensemble Organum), in denen sowohl klare gregorianische Melodik, als auch
orientalisch anmutende Verzierungen und Sologesänge vorkommen. Diese Mischung wird getragen von einem statischen, nur selten wechselnden Basston in tiefster
Tonlage, der an den “Om”-Gesang tibetischer Mönche erinnert...
Gregor richtete als erster die “schola
cantorum” ein, eine Gruppe ausgewälter Sänger, die die Kunst dieses liturgischen Gesanges pflegten und hochhielten.
Auf einen Papst Gregor geht auch der “Gregorianische Kalender” zurück, der bis
heute unsere Zeitrechnung ordnet, jedoch war das nicht Gregor der Große, sondern rund 1000 Jahre später Gregor der 13. (1582). Siehe https://de.wikipedia
.org/wiki/Gregorianischer_Kalender Diesen Hinweis erhielt ich von Herrn Werner Gubser aus der Schweiz, wofür ich sehr denkbar bin. [Februar 2009]
Ab etwa 1100 geriet die Kirche in einen Strudel der inneren Auflösung und Verweltlichung. Der Gregorianische Gesang verlor seine ursprüngliche Strahlkraft
und Bedeutung. Er wurde nur noch als Steinbruch verwendet: die erhabenen Melodien dienten als Material für Experimente der Mehrstimmigkeit (Polyphonie),
mit der ein Portal zu einer völlig neuen Musikentwicklung aufgestoßen wurde. In der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit (16.Jh.) erhielt die katholische Kirchenmusik neue Impulse, als Reaktion auf die Reformationsbewegung.
Doch sollte es nach dem Verblühen der Gregorianik fast 800 Jahre dauern, bis in der Benediktinerabtei Solesmes in Frankreich eine Rückbesinnung erwachte, die ursprüngliche Reinheit des Gregorianischen Gesanges wiederherzustellen. Dom
Guéranger war der Wegbereiter (um 1850). Die Stereo-Aufnahmen aus Solesmes unter dem alten Dom Joseph Gajard (1960) atmen noch die Frische dieses Aufbruchs.
Später entsteht bereits eine Neigung zur sterilen Perfektion (Dom Jean Claire), wie sie auch bei deutschen Gregorianik-Aufnahmen zu finden ist (P. Godehard Joppich). Auf der Empfehlungsliste finden Sie eine Auswahl der schönsten Gregorianischen
Gesänge, die mir bekannt sind. So zum Beispiel auch aus dem altspanischen Kloster Silos.
Die Gregorianik wird als die “Wiege der Abendländischen Musik” bezeichnet. Das
dürfen Sie ruhig wörtlich nehmen. Betrachtet man die geschichtliche Entwicklung, erscheinen die 500 Jahre Gregorianische Periode wie eine lange Kindheit dieser
Musik. Ausdruck und Inhalt vermitteln friedvolle Geborgenheit in den mütterlichen Armen Gottes.
Freude und Schmerz, Jubel und Trauer klingen musikalisch für ein ungeübtes Ohr sehr
ähnlich: ruhig, erhaben, fromm, himmlisch, friedlich, geborgen, heilsam, anbetend und so weiter. Erst durch Erforschen und innigerem Hinhören entfalten auch die Gregorianischen Gesänge eine subtile Differenziertheit.
Dem Ordensgründer
Benedikt von Nursia verdanken wir, dass die Ausübung des Gregorianischen Gesanges fest in den Tageslauf der Mönche und Nonnen aufgenommen wurde. Er
schuf eine Lebensregel, die “regula benedictina”, nach der sich bis heute die meisten Klostergemeinschaften organisieren.
Bekanntester Grundsatz daraus ist das “ora et labora - schaffe ein
Gleichgewicht zwischen Beten und Arbeiten”. Benedikt gründete 529 südlich von Rom das Kloster Montecassino. Er lebte also zur selben Zeit wie Gregor der Große.
Noch heute sind es vor allem die Benediktiner, die den Gregorianischen Gesang in der alten musikalischen Tradition pflegen. Der Hl. Benedikt wurde zum Schutzpatron Europas ernannt.
Jede Silbe, jeder Ton im Gregorianischen
Gesang hat ein eigenes Gewicht, eine eigene Bedeutung. Erst mit der Erfindung der Notenlinien durch Guido von Arezzo im Jahre 1027 wurde es möglich, das Verhältnis der Töne zueinander
, ihre Abstände und den Tonverlauf ziemlich genau aufzuschreiben. Es bedarf hoher Kunst und Wissenschaft, solche alten Notationen zu lesen! Unsere heute üblichen Notenzeichen haben sich erst ab 1600 entwickelt.
Hier links ein Beispiel für eines der ganz frühen Dokumente, mündlich überlieferte Melodien aufzuschreiben, sogenannte “Neumen”. Das sind die Striche, Bögen und
sonstigen Zeichen über den Buchstaben. Hier existiert noch kein Liniensystem. Dargestellt ist der Weihnachtsgesang “Puer natus est” aus dem 9. Jh.
- Reste der Neumen sind die Akzente z.B. im Französischen, sowie alle Interpunktionszeichen (Punkt, Komma usw.).
Eine Sonderform der Gregorianik entwickelte Hildegard von Bingen im 12.
Jahrhundert. Sie benutzte die ihr zur Verfügung stehenden musikalischen Mittel, um die in ihren Visionen innerlich gehörte kosmische Musik äußerlich hör- und singbar
zu machen. Es ist nur allzu verständlich, dass sie dabei die strengen Formen der Gregorianik sprengte und sehr frei damit umging. Näheres siehe bei Hildegard von Bingen.
zur Übersicht dieser Homepage auf einen Blick zum Gregorianik-Tipp zum Anfang vom Klassik-Tipp
zu den Komponisten
Zu einer sehr interessanten Seite über Gregorianik führt dieser Link: https://www.canto-gregoriano.de
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